Ich möchte Student sein

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von Kurt Tucholsky

(- Ich war damals ein blutjunger Referendar - , sagen manche Leute; das haben sie so in den Buechern gelesen...)

Ich war damals gar kein blutjunger Referendar, doch besinne ich mich noch sehr genau, einmal, als das Studium schon vorbei war und die Examensbueffelei und alles, in der Universitaet gesessen zu haben, zu Fuessen eines grossen Lehrers, und ich schand sein Kolleg -- schund? schund sein Kolleg. Da ging mir manches auf.

Da verstand ich auf einmal alles, was vorher, noch vor drei Jahren, dunkel gewesen war; da sah ich Zusammenhaenge und hoerte mit Nutzen und schlief keinen Augenblick; da war ich ein aufmerksamer und brauchbarer Student. Da - als es zu spaet war. Und darum moechte ich noch einmal Student sein.

Das Unheil ist, dass wir zwischen Dreissig und Vierzig keinen Augenblick Atem schoepfen. Das Unheil ist, dass es hopp-hopp geht, bergauf und bergab - und dass doch gerade diese Etappe so ziemlich die letzte ist, in der man noch aufnehmen kann; nachher gibt man nur noch und lebt vom Kapital, denn fuenfzigjaehrige Studenten sind Ausnahmen. Schade ist es.

Haltmachen koennen; einmal aussetzen; resuemieren; nachlernen; neu lernen - es sind ja nicht nur die Schulweisheiten, die wir vergessen haben - wir laufen Gefahr, langsam zurueckzubleiben ... aber es ist nicht des Radios und des Autos wegen, dass ich Student sein moechte.

Ich moechte Student sein, um mir einmal an Hand einer Wissenschaft langsam klarzumachen, wie das so ist im menschlichen Leben. Denn was das geschlossene Weltbild anlangt, das uns in der Jugend versagt geblieben ist - dazu komme ich nicht sagen die Leute in den grossen Staedten gern, und da haben sie sehr recht. Und bleiben ewig draussen, die Zaungaeste.

Wie schoen aber muesste es sein, mit gesammelter Kraft und mit der ganzen Macht der Erfahrung zu studieren! Sich auf eine Denkaufgabe zu konzentrieren! Nicht von vorn anzufangen, sondern wirklich fortzufahren; eine Bahn zu befahren und nicht zwanzig; ein Ding zu tun und nicht dreiunddreissig. Niemand von uns scheint Zeit zu haben, und doch sollte man sie sich nehmen. Wenige haben dazu das Geld. Und wir laufen nur so schnell weil sie uns stossen, und manche auch, weil sie Angst haben, stillzustehen, aus Furcht, sie koennten in der Rast zusammenklappen --

Student mit dreissig Jahren ... auch dies waere Tun und Arbeit und Kraft und Erfolg - nicht nur so schnell greifbar, nicht auf dem Teller, gleich, sofort, geschwind... Mit welchem Resultat koennte man studieren, wenn man nicht es mehr muesste! Wenn man es will! Wenn die Lehre durch weitgeoeffnete Fluegeltueren einzieht, anstatt durch widerwillig eingeklemmte Tuerchen, wie so oft in der Jugend!

Man muss nicht alles wissen... Bemiss deine Lebenszeit , sagt Seneca, fuer so vieles reicht sie nicht. Und er spricht von Dingen, die man vergessen sollte, wenn man sie je gewusst hat. Aber von denen rede ich nicht. Sondern von der Lust des Lernens, wo wir noch nehmen moechten; am Ladentische draengen sich die Leute, und aengstlich sieht die gute Kaufmannsfrau auf die Hintertuer, wo denn der Lieferant bleibt...! Ja, wo bleibt er -? Ich moechte Student sein. Aber wenn ich freilich daran denke, unter wie vielen Ringen und Original-Deutschen Studentenschaften ich dann zu waehlen haette, dann moechte ich es lieber nicht sein. Ad exercitium vitae parati estisne -?

Sumus. (1929)